Bitte beachten Sie: Dieser Beitrag ist älter als fünf Jahre. Forschung, Fachdebatte oder Praxisansätze haben sich möglicherweise in der Zwischenzeit weiterentwickelt.
Rechtsextremismus und Islamismus im Jugendalter Was ist übertragbar, was ist spezifisch?
/ 19 Minuten zu lesen
Bei der Frage, wie die bundesdeutsche Gesellschaft Gefährdungen durch islamistisch-extremistische Strömungen in Deutschland begegnen kann, richten sich gegenwärtig große Erwartungen auch auf Möglichkeiten (sozial)pädagogischer Einflussnahme. Dabei geht es darum, diesen Tendenzen vorbeugend zu begegnen, aber auch darum, gefährdete oder bereits in diese Szenen involvierte junge Menschen bei einer Distanzierung zu unterstützen.
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Politik und Fachwelt artikulieren aktuell einen sehr hohen Bedarf an entsprechenden Aktivitäten. Dem steht allerdings noch eine vergleichsweise junge Fachtradition gegenüber.
Denn eine gezielte pädagogische Arbeit zum Thema islamistischer Extremismus findet in Deutschland erst seit wenigen Jahren statt.
Dagegen existiert zur Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in der Bundesrepublik eine etablierte pädagogische Fachpraxis, die auf ein breites Spektrum von Ansätzen und inzwischen rund fünfundzwanzig Jahre Erfahrungen zurückgreifen kann (vgl. Glaser/Greuel 2013).
Insofern erscheint es lohnenswert, zu prüfen, ob und inwiefern die pädagogische Arbeit zu Rechtsextremismus eine Lernressource für die Auseinandersetzung mit Islamistischem Extremismus sein kann: Sind die dort praktizierten Ansätze und die Erfahrungen, die mit diesen Ansätzen gewonnen wurden, auch phänomenübergreifend relevant? Lohnen sich der Erfahrungstransfer und fachliche Austausch zwischen beiden Feldern? Aber auch: Welche Grenzen der Übertragbarkeit und welcher Bedarf an spezifischen Ansätzen zeigen sich? Diese Fragen sollen im folgenden Beitrag am Beispiel der Arbeit mit gefährdeten beziehungsweise bereits involvierten Zielgruppen diskutiert werden.
Der Gedanke einer Übertragung von Ansätzen setzt auf der Ebene der Phänomene Gemeinsamkeiten oder zumindest vergleichbare Dimensionen und Zusammenhänge voraus, an denen pädagogische Aktivitäten ansetzen können. Daher gilt es zunächst zu klären, ob sich bei Rechtsextremismus und Islamistischem Extremismus im Jugendalter solche phänomenbezogenen Gemeinsamkeiten zeigen, die vergleichbare Ansatzpunkte für pädagogische, hilfeorientierte Interventionen bieten. Im Zentrum des Beitrags steht deshalb der vergleichende Blick auf diese Phänomenbereiche beziehungsweise das hierzu vorliegende empirische Wissen (Teil 1 dieses Textes).
Sodann werden Elemente der Distanzierungs- und Deradikalisierungsarbeit im Handlungsfeld Rechtsextremismus skizziert, die diesen Ursachendimensionen Rechnung tragen und die insofern, gemeinsam mit den dazu vorliegenden Praxiserfahrungen, eine Lernressource für die Arbeit zu Islamistischem Extremismus bilden können (Teil 2). Abschließend wird auf einige Spezifika der Arbeit zu Islamistischem Extremismus hingewiesen, die in ersten vorliegenden Praxiserfahrungen erkennbar werden (Teil 3).
1. Gemeinsamkeiten von Hinwendungsprozessen
Vorbemerkung zu Forschungsperspektiven und Forschungsstand
Diskutiert werden im Folgenden nicht Rechtsextremismus und islamistischer Extremismus in ihrer Gesamtheit
Der hierzu vorliegende Forschungsstand zu Rechtsextremismus und Islamistischem Extremismus ist allerdings nur begrenzt vergleichbar, da die Forschungsfelder zum Teil durch unterschiedliche Forschungsansätze und -traditionen geprägt sind und da vor allem die Befunddichte zu einzelnen Dimensionen recht unterschiedlich ist. Insgesamt ist vor allem der Forschungsstand zu Islamistischem Extremismus begrenzt. So gibt es in diesem Feld kaum Befunde zu frühen familiären Erfahrungen, und es existieren nur wenige Studien, die Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren beleuchten. Generell liegt kaum Empirie zum deutschsprachigen Raum vor, weshalb für diesen Bereich vor allem auf internationale Studien zurückgegriffen wird. Aber auch in der Forschung zu Rechtsextremismus zeigen sich insofern Lücken, als ein Großteil der Studien auf den jugendkulturellen, gering organisierten Rechtsextremismus sowie auf Straf-und Gewalttäter fokussiert, während zu anderen Teilsegmenten (organisierte Strukturen, Kader, Führungspersonen) kaum Erkenntnisse vorliegen (vgl. Schuhmacher/Glaser 2016).
Insofern bezieht sich die folgende Diskussion ausdrücklich auf einen vorläufigen Forschungsstand. Diese Einschränkungen vorangestellt, lassen sich in der vorliegenden Forschung Hinweise auf eine Reihe von gemeinsamen oder vergleichbaren Dimensionen von jugendlichen Hinwendungsprozessen
Stellenwert der Ideologie
Als eine erste Gemeinsamkeit wird erkennbar, dass Hinwendungen zu extremistischen Strömungen keineswegs immer aus primär ideologischen Motiven erfolgen. So gilt für Jugendliche, die sich in rechtsextrem orientierte Szenen begeben, dass diese zwar häufig fremdenfeindliche Orientierungen aufweisen (mehr oder weniger ausgeprägt); viele von ihnen verfügen jedoch über eher diffuse Weltbilder und haben nur wenig Wissen zu und Interesse an den konkreten politischen Positionen des organisierten Rechtsextremismus (vgl. Heitmeyer/Möller 1995, Gaßebner u.a. 2001, Bannenberg/Rössner 2007). Auch im islamistischen Extremismus finden sich neben hochideologisierten Anführern viele Mitglieder dieser Gruppierungen, die einen (zunächst) geringen Ideologisierungsgrad zeigen (Borum 2011).
Die vorliegende Forschung weist vielmehr für beide Phänomene eine Reihe unterschiedlicher potenzieller Motiv- und Hintergrundkonstellationen aus. Diese Konstellationen sind für Rechtsextremismus und Islamismus keineswegs identisch (und zum Teil auch von sehr unterschiedlicher Qualität).
Desintegrations- und Krisenerfahrungen
Als eine solche Gemeinsamkeit zeichnen sich (unterschiedlich gelagerte) Desintegrations- und Krisenerfahrungen ab, die zumindest bei Teilgruppen innerhalb der Phänomene als ein spezifischer Erfahrungshintergrund erkennbar werden.
Zu nennen ist hier zum einen sozio-strukturelle Marginalisierung, das heißt eine mangelnde beziehungsweise prekäre Integration in den Bildungs-, Ausbildungs- und Erwerbssektor und daraus resultierende Defizit- und Nichtzugehörigkeitserfahrungen.
In der Forschung zu Rechtsextremismus zeigen sich solche Erfahrungshintergründe zwar nicht für alle Akteursgruppen
Für den islamistischen Extremismus zeichnet die Forschungslage ein insgesamt heterogeneres Bild, das zum Teil auch andere Facetten aufweist. So zeigt die aktuelle Generation dschihadistischer Aktivistinnen und Aktivisten hinsichtlich der Bildungshintergründe keine Auffälligkeiten, und manche Studien konstatieren für bestimmte Gruppierungen sogar ein überdurchschnittliches Bildungsniveau (Heerlein 2014). Allerdings sind auch für diese Akteure eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit und ein erhöhter Anteil prekärer Beschäftigungsverhältnisse kennzeichnend. In zwei deutschen Studien werden zudem "die wenig Gebildeten, sozial Desintegrierten" (Brettfeld/Wetzels 2007) bzw. "benachteiligte Jugendliche" (El –Mafalaani 2015), aber auch "enttäuschte Bildungsaufsteiger" (ebd.) als für islamistische Positionen besonders anfällige Gruppen identifiziert. Insofern finden sich auch hier Hinweise, dass sozio-strukturelle Marginalität bei Hinwendungen eine Rolle spielen kann, wenn auch etwas anders konturiert.
Eine weitere Dimension von Desintegrationserfahrungen bezieht sich auf Erlebnisse der Nichtanerkennung und Nichtzugehörigkeit, die auf interpersonaler, sozialer Ebene gemacht werden. Hier zeigt sich für Rechtsextremismus der übergreifende, bei unterschiedlichen Akteursgruppen feststellbare Befund, dass Jugendliche vergleichsweise häufiger von Außenseitererfahrungen beziehungsweise -wahrnehmungen in Peer-Kontexten, Schule und Sozialraum berichten (Öszöz 2008; Hafeneger/Jansen 2001, vgl. auch Groffmann 2001). Diese Erfahrungen sind allerdings einer Annäherung an rechtsextreme Szenen nur zum Teil vorgelagert. Zum Teil sind sie auch eine Folge entsprechender inhaltlicher und habitueller Orientierungen beziehungsweise das Resultat von Selbst- und Fremdstigmatisierungen, die mit rechtsextremen Hinwendungsprozessen in sich wechselseitig verstärkender Weise einhergehen (Groffmann 2001).
Mit Blick auf islamistischen Extremismus wiederum werden von der Forschung insbesondere herkunfts- und religionsbezogene Diskriminierungserlebnisse als Erfahrungen problematisiert, die Hinwendungen potenziell befördern (Brettfeld/Wetzels 2007; Roy 2006).
Als ein gut gesicherter Befund gilt dagegen für beide Phänomenbereiche, dass biografische Krisen eine Relevanz für Hinwendungsprozesse besitzen. Auslöser solcher Krisen können etwa der Tod eines Elternteils oder Verlust des Partners sein, aber auch ein Gefängnisaufenthalt. Solche Erlebnisse können, so der phänomenübergreifende Befund, eine "kognitive Öffnung" bewirken, die Individuen für extremistische Bewegungen und ihre Botschaften empfänglich macht. Biografische Krisen wurden in beiden Phänomenfeldern in diversen untersuchten Fällen als konkrete Auslöser für eine Hinwendung erkennbar (etwa Schiebel 1992; Wiktorowitz 2005).
Spezifik der Jugendphase
Ein weiteres übergreifendes Charakteristikum ist, dass Hinwendungen zu diesen Strömungen oft in der Phase der Adoleszenz erfolgen – in einer Phase also, in der bei jungen Menschen eine fundamentale Umorientierung primärer sozialer Bezüge stattfindet, sich Aktionsräume erweitern und Fragen der eigenen – auch der politischen – Identität an Bedeutung gewinnen. So erfolgt der Einstieg in rechtsextreme Gruppierungen feldkundigen Expertinnen und Experten zufolge typischerweise mit 13 bis 14 Jahren; für den islamistischen Extremismus wird das Einstiegsalter mit circa 15 bis 19 Jahren etwas später angesetzt. Ein hoher Anteil junger Menschen findet sich auch unter den nach Syrien und Irak Ausreisenden.
Insofern ist es wenig erstaunlich, dass Hinwendungsprozesse phänomenübergreifend auch einige sehr jugendspezifische Charakteristika aufweisen. Diese Jugendspezifik zeigt sich unter anderem in bestimmten gemeinsamen Attraktivitätsmomenten, die die Forschung rechtsextremen und islamistischen Gruppierungen bescheinigt beziehungsweise in den Hinwendungsmotiven, die in Forschungsarbeiten für beide Phänomenbereiche identifiziert wurden.
Zu nennen ist hier zum einen das Motiv einer Suche nach Sinnstiftung und Orientierung im Leben (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012), die in der Jugendphase besonders ausgeprägt ist. Diese Suche wird in vielen Fallstudien und Biografien als ein zentrales Hinwendungsmotiv erkennbar. Rechtextreme und islamistische Ideologien bieten auch insofern vergleichbare Antworten auf diese Sinnsuche, als sie dem Einzelnen eindeutige "Erklärungen", klare Gut-Böse-Unterscheidungen und ein vermeintlich höheres Ziel seiner Existenz und seines Handelns bieten.
In beiden Phänomenbereichen findet sich zudem das Motiv einer – auch bewusst provokativen – Abgrenzung von der Elterngeneration (Glaser/Schlimbach 2009, De Koning 2009; Schäuble 2011). Auch aus diesem Motiv heraus vermag eine Zugehörigkeit zu diesen Gruppierungen beziehungsweise das habituelle Bekenntnis zu ihnen eine spezifische Attraktivität zu entfalten. Damit verbunden zeigt sich bei manchen Jugendlichen eine ausgeprägte Suche nach Abenteuer und Grenzerfahrungen (Willems u. a. 1993; Hemmingsen 2010). Sie werden durch die Klandestinität dieser Gruppierungen, den Nervenkitzel des Verbotenen, aber auch die Aussicht auf Gewalthandeln in besonderem Maße angesprochen.
Schließlich begegnet man in beiden Phänomenfeldern auch idealistisch orientierten beziehungsweise begründeten Motiven, so widersprüchlich das angesichts der gewalthaltigen Inhalte und Folgen beider Ideologien auf den ersten Blick erscheint. Zu diesen Motiven gehört etwa der Wunsch, sich gegen wahrgenommene Ungerechtigkeiten oder für eine bessere Gesellschaftsordnung zu engagieren – eine gerechtere, naturverträglichere, dem "Wesen" des Menschen oder dem Willen Gottes entsprechendere (Hewicker 2001; De Koning 2013)
Relevanz der Gruppe
Sowohl aus einer Desintegrationsperspektive als auch aus adoleszenztheoretischer Sicht erweist sich ein weiteres Attraktivitätsmoment als plausibel, das in beiden Phänomenfeldern als ein bedeutsames Hinwendungsmotiv erkennbar wird: das Versprechen, Teil einer besonders verbundenen Gemeinschaft Gleichgesinnter zu sein (Frindte/Wahl 2001, v. Wensierski 2003; De Koning 2009, Saltman/Smith 2015). Mit diesem Motiv korrespondieren Selbstinszenierungen dieser Gruppierungen als "Kameradschaft" (Rechtsextremismus) bzw. "brotherhood"/"sisterhood" (Islamismus), in denen dieses Attraktivitätsmoment (gezielt) bedient wird.
Die Forschung zu Distanzierungs- und Ausstiegsprozessen zeigt zudem, dass die Entzauberung und Enttäuschung dieses idealisierten Gemeinschaftsversprechens im Gruppenalltag ein wesentliches Distanzierungsmotiv bildet und dass insbesondere dann, wenn "Gemeinschaft" ein zentraler Hinwendungsgrund war, das Vorhandensein alternativer Sozialbezüge die Gruppenbindung schwächen kann. Umgekehrt lautet ein übergreifender Forschungsbefund, dass fehlende alternative Sozialbezüge ein entscheidendes Ausstiegshemmnis darstellen (Pisoiu/Köhler 2013).
Persönliche Loyalitäten und Gruppendynamiken schließlich gelten als wesentlich dafür, dass auch Hinwendungen, die zunächst aus nicht-ideologischen Motiven erfolgen, in eine ideologische Radikalisierung und wachsende Gewaltbereitschaft münden können (McCauley/Moskalenko 2008).
Zwischenfazit
Aus den hier diskutierten Belastungs- und Umbruchserfahrungen lassen sich keine Zwangsläufigkeiten und Vorherbestimmungen ableiten, und sie stellen für sich genommen auch keine Erklärungsfaktoren dar. Vertiefende Untersuchungen liegen vor allem zu Rechtsextremismus vor. Sie zeigen zum einen, dass für Hinwendungen niemals nur einzelne Faktoren verantwortlich sind, sondern dass diese stets aus dem Zusammenspiel verschiedener Aspekte resultieren. Zum anderen verweisen diese Studien darauf, dass es für die Verarbeitung solcher Belastungs- und Umbruchserfahrungen von entscheidender Bedeutung ist, auf welche sozialisatorisch erworbenen Deutungsmodi und Bewältigungskompetenzen junge Menschen jeweils zurückgreifen können (vgl. etwa Bohnsack et al. 1995).
Erkennbar wird in der Gesamtschau allerdings, dass Desintegrations- und Nichtanerkennungserfahrungen, die aus unterschiedlichen Bereichen resultieren können, phänomenübergreifend in vielen Fällen als biografische Hintergrunderfahrungen präsent sind. Damit korrespondiert, dass sich das Gemeinschaftsversprechen und die sozialen Gratifikationen, die extremistische Gruppierungen ihren Mitgliedern bieten, als ein zentrales Hinwendungsmotiv und Attraktivitätsmoment identifizieren lassen. Es zeigt sich zudem eine spezifische Bedeutung der Jugendphase für diese Prozesse, sowohl das Alter als auch die Motivlagen betreffend. Im folgenden Abschnitt werden einige zentrale Grundelemente der Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen vorgestellt, die auf diese phänomenübergreifenden Zusammenhänge Bezug nehmen und sich in der Praxis dieser Arbeit sowohl mit hinwendungsgefährdeten als auch mit bereits stärker involvierten Jugendlichen bewährt haben.
2. Übertragbare Elemente und Praxiserfahrungen aus der Distanzierungsarbeit zu Rechtsextremismus
Distanzierungsarbeit im Handlungsfeld "Rechtsextremismus"
Trennung von Einstellung und Person: Professionelle pädagogische Arbeit mit diesen Zielgruppen muss zwischen Einstellung und Person differenzieren. Das bedeutet, dass abwertende, ausgrenzende und gewalthaltige Orientierungen und Verhaltensweisen der Jugendlichen klar zurückgewiesen werden, die Jugendlichen selbst jedoch als Personen anzuerkennen und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen sind.
Verstehensperspektive: Professionelle pädagogische Arbeit in diesem Handlungsfeld fragt nach den Gründen für das problematische, selbst- und fremdschädigende Verhalten der Jugendlichen, versucht die subjektive Bedeutung und den (vermeintlichen) Nutzen ihres Verhaltens gemeinsam mit den Jugendlichen zu ergründen und nimmt die Erkenntnisse als Ausgangspunkt der Arbeit.
Vertrauensbeziehung als Basis: Es bedarf einer belastbaren Arbeitsbeziehung, um mit den Jugendlichen an problematischen Haltungen arbeiten zu können. Der pädagogische Raum sollte deshalb ein geschützter Raum sein, in dem "heikle" Themen sanktionsfrei thematisierbar sind. Diese Vertraulichkeit hat ihre rechtlichen Grenzen dort, wo Pädagoginnen und Pädagogen von konkreten Gefahren für Andere oder für die Jugendlichen selbst Kenntnis erhalten. Als wesentlich gilt deshalb auch, diese Grenzen transparent zu kommunizieren.
Neben diesen Grundannahmen zeigen sich weitere formatübergreifende Elemente bei den konkreten Vorgehensweisen pädagogischer Arbeit:
Mehrebenenansatz: Um der Vielfältigkeit und Mehrdimensionalität von Hintergrundkonstellationen und Motivlagen Rechnung zu tragen, arbeiten die Angebote in der Regel auf mehreren Ebenen mit den Jugendlichen, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Bestandteil dieser Arbeit ist stets eine inhaltliche Auseinandersetzung mit weltanschaulich-politischen Positionen. Als bedeutsam gilt aber ebenso die Bearbeitung aktueller Problemlagen wie Sucht- und Gewaltproblematiken sowie von Belastungen, die aus früheren Lebensphasen resultieren. Einen zentralen Stellenwert hat zudem die Unterstützung beim Aufbau sozialer Bezüge und Anerkennungssysteme außerhalb rechtsextremer Szenen. Dies geschieht durch Hilfestellungen bei der Integration in Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt sowie durch das Erschließen anderer Freundes- und Bekanntenkreise und alternativer Freizeitaktivitäten.
Fallbezogene Differenzierung: Schwerpunkte und konkrete Inhalte der Betreuung werden jeweils mit Blick auf den Einzelfall und sich hier zeigende Bedarfe individuell festgelegt. Zu diesem Zweck steht am Beginn der Arbeit eine Analyse der relevanten Ursachen- und Problemdimensionen, die sogenannte "Fallanamnese". Bestandteil dieser Analyse ist auch das Herausarbeiten der spezifischen Funktionalität, die rechtsextreme Orientierungen und Gruppenzugehörigkeiten im Einzelfall besitzen. Sie bildet den Ausgangspunkt, um gemeinsam mit den Jugendlichen nach "funktionalen Äquivalenten" (vgl. Böhnisch 2012) zu suchen, die der Anziehungskraft rechtsextremer Angebote entgegenzuwirken vermögen.
Einbeziehung Dritter: Um den unterschiedlichen Bedarfen der Jugendlichen professionell begegnen zu können, wird mit einem differenzierten Spektrum professioneller Akteure aus Jugend- und Sozialhilfe, Schul- und Berufsbildung, Sicherheitsbehörden, Freizeitvereinen et cetera kooperiert. Die Angebote fungieren als Schnittstelle, welche die erforderlichen Hilfen identifiziert, organisiert und koordiniert. Da der Aufbau und die Pflege dieser Kooperationsnetze sehr zeit- und arbeitsintensiv sind, werden sie im Idealfall als eigener Arbeitsschwerpunkt mit entsprechenden Ressourcen in der Arbeit verankert.
Arbeiten mit den sozialen Kontexten: Es hat sich als bedeutsam erwiesen, Bezugspersonen der Jugendlichen zu berücksichtigen – zum Beispiel Eltern, Geschwister oder frühere Freunde – und diese gegebenenfalls in die Arbeit einzubeziehen. Als relevant erweisen sich die Bezugspersonen zum einen, weil sie als unterstützende Ressource für Loslösungs- und Reintegrationsprozesse fungieren können. Zum anderen können sie aber auch "Teil des Problems" sein – was es entsprechend in der Betreuung mit zu berücksichtigen und zu bearbeiten gilt.
Darüber hinaus zeigen die Praxiserfahrungen aus dem Handlungsfeld Rechtsextremismus, dass Distanzierungsarbeit ein langwieriger und anfälliger Prozess ist, der eine hohe Professionalität, langfristige Formate, personelle Kontinuität sowie sozialräumliche Verankerung und Einbindung in fachliche Debatten erfordert.
Die hier vorgestellten bewährten Grundsätze und Vorgehensweisen der Arbeit mit rechtsaffinen und rechtsextremen Jugendlichen setzen an den diskutierten Erfahrungshintergründen und Motivlagen an, die phänomenübergreifend als relevante Dimensionen jugendlicher Hinwendungsprozesse erkennbar werden. Sie bieten sich deshalb für eine Übertragung in die Arbeit mit islamistischen bzw. entsprechend gefährdeten Jugendlichen an.
Neben diesen gemeinsamen Ansatzpunkten für distanzierungsfördernde Arbeit zeichnen sich allerdings auch Spezifika dieses neuen Handlungsfeldes ab, die Praktikerinnen und Praktiker vor besondere und zum Teil auch gänzlich neue Herausforderungen stellen. Einige dieser Spezifika, die sich in ersten vorliegenden Praxiserfahrungen zeigen (vgl. Glaser/Figlestahler 2016), sollen abschließend benannt werden.
3. Spezifika des Handlungsfeldes islamistischer Extremismus
Vor allem um Zugänge zu Jugendlichen und zu ihrem sozialen Umfeld zu ermöglichen, aber auch um inhaltliche Auseinandersetzungen fundiert zu gestalten, müssen bei Kooperationen in diesem Handlungsfeld zum Teil neue Wege beschritten werden. Besonderer Stellenwert kommt hier der Einbindung religiöser Akteure wie Moscheegemeinden oder Imamen zu. Welche inhaltlichen und fachlichen Kriterien bei der Auswahl religiöser Kooperationspartner anzulegen sind oder welche Zielstellungen religiös grundierte Arbeit in diesem Themenfeld verfolgen sollte, sind aktuell in diesem Zusammenhang diskutierte Fragen, zu denen es zukünftig noch weiterer fachlicher Verständigung bedarf.
Ein weiteres Spezifikum des Handlungsfeldes ist die territoriale Distanz der IS-Kampfgebiete. Denn zum einen erschwert die räumliche Entfernung, verbunden mit der starken Abschottung und Kontrolle der dorthin Ausgereisten, die IS-Propaganda zu hinterfragen und zu entkräften. So genießen in den sozialen Medien verbreitete positive und verklärende Berichte über das Leben unter IS-Herrschaft bei Jugendlichen häufig hohe Glaubwürdigkeit, zumal wenn sie von gleichaltrigen Ausreisenden verfasst wurden. Praktikerinnen und Praktikern fällt es dagegen schwer, diesen Aussagen etwas entgegenzusetzen, da ihnen keine vergleichbare Authentizität zugebilligt wird.
Zum anderen stellt die räumliche Distanz Praxisakteure vor die Frage, wie sie ausgereiste Jugendliche weiter erreichen können, um mögliche Distanzierungsimpulse zu unterstützen. Als spezifische Herausforderung und Distanzierungshemmnis erweist sich auch der Jenseitsbezug der Ideologie, da sich die in Aussicht gestellten Belohnungen beziehungsweise Bestrafungen in einem "Leben nach dem Tod" ebenfalls einer Überprüfung und damit möglichen Widerlegung entziehen.
Neue Anforderungen sind zudem mit der Zielgruppe der Rückkehrerinnen und Rückkehrer verbunden. Junge Menschen, die aus Kampfgebieten der IS-Milizen zurückkehren, dürften in vielen Fällen einen spezifischen Betreuungsbedarf haben, um eigene und erlebte Gewalttaten aufzuarbeiten und ihre gesellschaftliche Re-Integration zu begleiten. Gleichzeitig stellt sich – angesichts häufig unklarer Motivlagen von Rückkehrenden – die stets schwierige Frage der Zusammenarbeit pädagogischer und sicherheitsbehördlicher Professionen hier nochmals in neuer, verschärfter Form.
Insgesamt ist dieses Handlungsfeld zudem durch eine ausgeprägte und im Vergleich zum Rechtsextremismus deutlich höhere gesellschaftliche Gefährdungswahrnehmung geprägt. Diese speist sich zum einen aus der Ausreiseoption und den damit verbundenen Gefahren für die Jugendlichen selbst, zum anderen aus einer hohen gesamtgesellschaftlichen Bedrohungswahrnehmung infolge der jüngsten Terroranschläge. Diese hohe Gefährdungswahrnehmung schlägt sich in einem vergleichsweise höheren Beratungsinteresse und zum Teil auch ´"übersensibilisierten" Meldeverhalten des sozialen Umfelds von Jugendlichen nieder, die vermeintlich oder tatsächlich gefährdet sind. Sie bringt aber auch einen erhöhten Verantwortungs- und Handlungsdruck mit sich, der auf den Angeboten bzw. ihren Mitarbeitenden lastet
Nicht zuletzt erweisen sich aktuell stark polarisierte gesellschaftliche Debatten über "Einwanderung" und "Islam" sowie in der Gesellschaft verbreitete muslimfeindliche Tendenzen als gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die in spezifischer Weise in dieses Feld hineinreichen. Diese Entwicklungen können auf der subjektiven Ebene mit zum Teil massiven Diskriminierungserfahrungen und -wahrnehmungen verknüpft sein. Zwar konnten Zusammenhänge mit Hinwendungs- und Radikalisierungsprozessen bisher wissenschaftlich nicht eindeutig belegt werden (s. o.). Festzuhalten ist jedoch, dass sie in jedem Fall Einfluss auf pädagogische Handlungsoptionen haben. So dürfte die Furcht vor (weiterer) Stigmatisierung einer der Gründe dafür sein, dass Familien mit muslimischem Hintergrund durch Beratungs- und Hilfsangebote zu dieser Thematik bisher deutlich schwerer erreicht werden als Angehörige ohne muslimischen Hintergrund (vgl. Glaser/Figlestahler 2016).
Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Diskurse und Tendenzen bergen pädagogische Interventionen zudem eine erhöhte Gefahr, durch eine gezielte Adressierung bestimmter "Risikogruppen" zu Stigmatisierungen beizutragen. Oder anders formuliert: Pädagogische Praxis steht hier nochmals in besonderer Weise in der Verantwortung, mögliche stigmatisierende Effekte ihrer Arbeit mit zu reflektieren und entsprechend sensibel zu agieren.
Schlussbemerkung
Die vorliegenden Befunde aus der Forschung zu Rechtsextremismus und Islamismus verweisen darauf, dass sich jugendliche Hinwendungsprozesse auch als subjektiv plausible und funktionale Versuche der Bewältigung schwieriger Lebenslagen sowie von altersspezifischen Herausforderungen begreifen lassen – und dass dies übergreifend für beide Phänomenbereiche gilt.
Zentrale Grundprinzipien und Kernelemente aus der Distanzierungsarbeit im Handlungsfeld Rechtsextremismus haben sich in der Auseinandersetzung mit diesen Hintergründen und Funktionen von Hinwendungen bewährt und können deshalb auch für die Arbeit mit islamistischen beziehungsweise entsprechend gefährdeten Jugendlichen als ertragreich erachtet werden.
In vielen Angeboten werden diese Ansätze oder zumindest einzelne ihrer Elemente auch bereits praktiziert. Weniger verbreitet ist dagegen der fachliche Austausch zwischen beiden Feldern. Ein Grund hierfür dürfte sein, dass vor allem bei neu hinzugekommenen Praxisakteuren die Wahrnehmung von Differenzen zwischen den beiden Phänomenen häufig überwiegt. Angesichts dessen kann der Blick auf bestimmte Gemeinsamkeiten der Phänomenfelder dem fachlichen Brückenschlag dienen, um Erfahrungstransfer, fachliche Professionalisierung und konzeptionelle Weiterentwicklung in der pädagogischen Distanzierungsarbeit mit jungen Menschen zu fördern.
Es zeigt sich allerdings auch, dass die Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus im Jugendalter durch einige Spezifika gekennzeichnet ist, die die Entwicklung neuer, eigenständiger Antworten erfordern und auch spezifische Anforderungen an Fachkräfte bergen.
Nicht zuletzt ist unser Wissen zu den Erfahrungshintergründen und Motiven junger Menschen, die sich dem islamistischen Extremismus zuwenden, nach wie vor begrenzt. Das verweist einerseits darauf, dass wir zu diesen Zusammenhängen noch mehr Forschung benötigen. Zum anderen sind vor diesem Hintergrund auch ein differenzierender Blick und Zurückhaltung mit vorschnellen Gleichsetzungen angezeigt.
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Michaela Glaser, Studium der Soziologie und Politikwissenschaften, ist Projektleiterin der "Arbeits- und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Radikalisierungsprävention" am Deutschen Jugendinstitut (DJI). Kontakt: glaser@dji.de
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